Spuren aus der alten Zeit
Allgemeine Zeitung Mainz vom 17. Oktober 2008
Karin Holl verrät den Guntersblumern ihre Geschichte
Guntersblum – Dass vor genau 500 Jahren das Guntersblumer Gerichtssiegel
aktenkundig auftauchte und das „Alte Schloss“ seit 1708 existiert,
mag historischer Anlass sein für einen Empfang im Dorfgemeinschaftshaus
am 31. Oktober. – Guntersblum hat zudem das Glück, mit Karin Holl
eine geschichtsschreibende Enthusiastin zur Seite zu haben, die nicht der Ehre
halber veröffentlicht. Ihre jüngste Publikation erfüllt gestrige
Daten mit Leben. Grund genug, die Spurensucherin vorzustellen.
Bücher unter Jubiläumszwang sind keine Seltenheit. Veröffentlichungen
aus Leidenschaft schon. Denn dann muss Herzblut mitschreiben.
Als Kind bereits lauschte Karin Holl der geliebten Großmutter, die vom
dörflichen Alltag vor 1900 so anschaulich erzählte. Vom einer Zeit
da Wasser noch am öffentlichen Brunnen geholt werden musste, sprach ihre
Oma. Kerzen schienen wärmer als heutige Glühbirnen im Haus, und vor
der Tür gab es noch keine Autos. – Das Interesse am Einst war geweckt,
weil spannende Geschichten die Vergangenheit erhellten. Wer zuhört, vermag
auch zu erzählen.
Dieser menschennahe Zugang prägt bis heute ihre lesenswerten Zeitreisen.
Ob sie federführend bei der „Chronik“ zur 1100-Jahrfeier ihrer
Heimatgemeinde 1997 mitwirkt oder mit einer Auswanderungsgeschichte nachweist,
dass die amerikanische Unternehmerfamilie Chrysler letztlich linksrheinische
Vorfahren hat: die Autorin fesselt, weil sie „persönlich“ vorgeht.
Anders als im Schulunterricht, der große Zusammenhänge, politische
Ereignisse ins Zentrum rückt, richtete sie das Augenmerk auf Details. Sie
erklärt Geschichte nicht theoretisch, sie versteht sie anhand von Lebensspuren.
Wer wie Karin Holl nach Wurzeln der eigenen Familie fahndet, entdeckt nicht
nur Namen und Geburtstage; Arbeit und Fest, konkrete „Existenzen“.
Zudem gerät das Einzelschicksal in gesellschaftliche Zusammenhänge.
„Ich begann davon zu plaudern, ein Freud bat mich, meine Geschichten aufzuschreiben.“
– So begann ihr Spaß, an dem nun viele Leser teilhaben.
Seit etwa 1240 gehörte Guntersblum zur Grafschaft Leiningen, dem kleinen
Nachbarn der Kurpfalz. Das eigene Gerichtssiegel wird erst nötig, als um
1500 vorher ehrenamtlich agierende adlige Hofbesitzer, die mit anderen Einwohnern
über Übeltäter urteilten, ihr Amt niederlegten. „Helfrich
Flücker, einer meiner frühen Familienangehörigen, war Gerichtsschöffe
damals.“, erzählt Holl. Jener Ahn erlebte also mit, als erstmals
das zweigeteilte Siegel mit dem Leinigischen Adler und den symbolischen Blumen
Verwendung fand.
Als vor 300 Jahren der Bau des „Alten Schlosses“ seinen Abschluss
fand, existierte die Garfschaft „Leinigen-Dagsburg-Falkenburg in Guntersblum“
bereits fast fünf Dekaden, aber erst der Pfälzische Erbfolgekrieg
„provozierte“, dass Guntersblum Residenz wurde. Das wechselvolle
Schicksal des Baus, indem sich nach 1833 die Bürgermeisterei befand und
der 1972 zu Sitz der Verbandsgemeinde avancierte, ist nur ein Indikator –
nicht Thema des neuen Buches.
Wilhelm Carl von Leinigen-Gutersblum hatte 1788 das „Neue Schloss“
errichten lassen, dass sofort von der gräflichen Familie bezogen wurde.
Die Erinnerungsjahre – 500 Gerichtssiegel, 300 Altes Schloss, 220 Jahre
Neues Schloss“ – flankieren gewissermaßen das individuelle
Jubiläum. Denn seit 25 Jahren beschäftigt sich die heute in Mühlheim
(Pfalz) wahlbeheimatete Historikerin mit Guntersblum. Sie scheute den Staub
der Archive zwischen Heimatgemeinde und Amorbach, Worms und Darmstadt, Speyer
und Paris nicht, um Material zu sichten. Quellen zum Sprechen zu bringen aber
kann nur ein Talent, das nicht nur dank Fremdenführerin „Tante Lisbeth“
im Ort bekannt ist. Über den Inhalt der neuerlichen, gedruckten Zeitreise
vorerst nur soviel: „Vom leiningischen Dorf zur Residenz“ lautet
der Untertitel. Mehr aber als eine Chronologie der Herrschaftsverhältnisse
vom frühen 13. Jahrhundert bis zum Ende der Grafschaft in der „Franzosenzeit“
1798 findet der Schmökernde. Auch die Guntersblumer Geschichte „von
unten“ wird transparent, bedeutsame Adelshöfe erzählen, sinnlich
wird der Sinn „Lauf der Zeit“ dargestellt.
Am 31. Oktober ab 19.30 Uhr füllt sich die Gemeindehalle gewiss. Unter
den Ehrengästen lauschen hoch dotierte Fachwissenschaftler der so unakademisch,
aber akribisch arbeitenden Kollegin genau. Politiker bestaunen die Genese des
Gemeinwesens, wo sie heute Verantwortung tragen. Der Kulturverein jubelt. Vor
allem aber dankt die Guntersblumer Bevölkerung, dass sie ihre Heimat besser
verstehen lernen.